In den Niederlanden hatte ich im Jahr 2000 die großartige Möglichkeit bekommen, mich noch einmal „nachausbilden“ zu lassen – einen Artikel, den ich damals in der Hebammenzeitschrift veröffentlichte, findet man hier unten. Ein Erleuchtungsmoment aus dieser Zeit trägt mich bis heute:

Ich sitze auf einer Küchenbank. Die Gebärende hat entschieden, dass sie jetzt, bei 8 cm Muttermund, also kurz vor der Geburt ihres zweiten Kindes, nochmal eine Zigarette unter ihrer Dunstabzugshaube rauchen will. Ich sitze da und denke: Ich bin nur die Hebamme. Diese starke Frau lebt hier mit ihrer Familie, und ich bin ihr Gast für den Moment der Geburt.

Weder habe ich danach mit dem Rauchen wieder angefangen noch würde ich irgendjemanden vom Rauchen überzeugen wollen. Aber dieser Moment hat mir zugleich die Erleichterung eröffnet, nur ganz begrenzt verantwortlich zu sein für das Leben anderer Menschen – und die große Freude dieser Art von respektvoller Begleitung andererseits gezeigt. An anderer Stelle denke ich auch manchmal, ich gebe vielleicht nochmal ein bisschen Orientierung, oder die Familie hat ein Recht auf bestimmte Informationen (bei allem Bemühen um Wissenschaftlichkeit immer eine subjektive Auswahl). Aber das war sicher nicht so ein Moment damals. Es ist ja auch heutzutage kein Geheimnis, dass Rauchen nicht gesundheitsförderlich ist.

Ich bin unsagbar froh, dass dieser Moment in mein Leben gehört. Jetzt wo ich mich noch einmal „einem anderem Thema im selben Thema“ widme, taucht er wieder oft auf in meiner Erinnerung. Das Wertesystem der Familien muss führen. Sonst ist es nicht ihr Leben.

als Hebamme in den Niederlanden

Artikel in der HebammenZeitschrift im Jahr 2001

Vor gut einem halben Jahr habe ich Deutschland – genauer Berlin – verlassen, um meinen Horizont als Hebamme zu erweitern. Ich hatte in Deutschland immer wieder Schwierigkeiten mit dem Spagat zwischen »auf alle Komplikationen jederzeit gefasst sein« und »Vertrauen in natürliche Vorgänge haben und stimulieren«. Auf der Suche nach Frauen von denen ich »Urvertrauen« also lernen kann, und in denen ich es also nicht erst stimulieren muss, wenn sie zur Geburt in die Klinik kommen (Sisyphosarbeit wie ich fand…), bin ich tatsächlich in unserem Nachbarland gelandet! Ich hatte immer vermutet, dazu in den »Busch« gehen zu müssen und bin daher immer noch überrascht, dass es offenbar doch möglich ist, Vertrauen in Geburt und europäische Zivilisation unter einen Hut zu bringen.

Wir 20 ausländischen Hebammen, die der niederländische Hebammenverband (vom Staat unterstützt!) eingeladen hat, sie hier unter großem Aufwand einzuarbeiten, werden in einem Monat als »befähigt« erklärt und sind dann wirklich gut gerüstet, um hier ins Gebärleben einzusteigen. Hinter uns liegen zahlreiche Unterrichtsstunden mit Fallbesprechungen, neuesten Studien zur Geburtswissenschaft, Diskussionen, Kommunikations- und »Fertigkeitstraining«.

Außerdem mehrere Praktika in verschiedenen Praxen, in denen wir uns Routine aneignen konnten in der Schwangerenvorsorge, in Gesprächsführung auf Niederländisch und Geburtshilfe mit u. a. dem für uns neuesten Teil: dem Nähen. Allgegenwärtig ist dabei das Wort »Risikoselektion«: Die Hebamme arbeitet zusammen mit dem Hausarzt in der so genannten »1. lijn«: quasi im Patienten- Erstkontakt. Alle anderen Ärzte sind hier ausschließlich in Kliniken tätig: in der »2. lijn«.

In der Verantwortung der 1.lijn liegt es, rechtzeitig weiter zu verweisen (d. h. nicht zu spät und nicht zu früh), in unserem Fall an den Gynäkologen oder den Kinderarzt. Dieses Risikoselektieren ist hier eine Hauptaufgabe der Hebamme, und für uns war es neu. Und mir quatschen auch noch immer mal wieder Stimmen in meinem Kopf dazwischen, die ich mir aus Deutschland mitgebracht habe, und fragen: »Aber kann ich Risiko überhaupt rausselektieren? Was kann nicht alles passieren…«

»Kein Wunder, dass man so kein Vertrauen kriegt« antworte ich dann. Hier gehe ich zusammen mit den Niederländern davon aus, dass Frauen ohne erkennbares Risiko (Gestose, Vorerkrankungen, Z.n. Sectio) selbständig (also warum nicht zu Hause) entbinden können. Sollte sich ein Risiko entwickeln, werden wir es früh genug merken. (Die Schwangeren werden z.B. in der Vorsorge nicht vaginal untersucht, und die Kinder kommen trotzdem weder früher noch unbemerkt…) Und sollte doch etwas geschehen, was wir nicht vorhersehen konnten, wird aber auch niemand behaupten, es sei doch verhinderbar gewesen.

Ich habe z.B. gleich am Anfang hier ein paar sehr beeindruckende (und auch hier nicht alltägliche) Erfahrungen gemacht: Wir mussten ein Kind eine Viertelstunde lang beatmen, bevor es die Augen öffnete und »blieb«. Der Kinderarzt, der sich danach um Bram kümmerte, nachdem der mit dem Krankenwagen in der Klinik ankam, hat uns telefonisch auf die Schulter geklopft: Wir hätten gut reagiert und das Kind sei jetzt unauffällig. Diese positive Reaktion kam für mich unerwartet.

Ein paar Tage später kamen wir zu einer Frau, deren Kind unerwartet in Steißlage lag, und so dann auch zu Hause zur Welt kam, weil sie uns erst bei vollständigem MM unsere Hilfe brauchte, dann aber auch die Blase sprang und das Kind gleich hinterher kam. Zu meinem eigenen Erstaunen war ich ganz ruhig (beim Bracht mit einem gebügelten Küchenhandtuch; Kaninchen und Katzen im Schlafzimmer…), ich hatte ja erst ein paar Tage vorher beatmet das hatte geklappt, also was konnte schon passieren!

Diese Ruhe, dieses Vertrauen – darin dass es gut geht, dass die Frau es kann, dass ich es kann etc.; das konnte ich erst hier aufbauen, wo kein Arzt hinter mir steht. Einfach weil man, immer wenn er da steht, hinterher wegen irgendetwas sagt: »Gut, dass er da war. Ohne wär’s schief gegangen.«

Die Frauen sagten das in Berlin immer über die PDA, über die VE, über die Sectio: »Oh Gott, das hätte ich ohne nie geschafft.« Es ist ein System, das sich selbst unentbehrlich macht und auch nicht rückgängig zu machen ist in meinen Augen.

Hier gebären Frauen selbst, auch nicht alle natürlich, aber die Erwartung ist so. Weil die Freundin und die Schwester es auch konnten. Und das sind auch die Kettenraucherinnen und auch die Ärztinnen. Und das Vertrauen, das man hat, bestätigt sich selbst – eben wie umgekehrt in Deutschland das Misstrauen.

Nach diesen Erfahrungen war ich total verblüfft, dass dieses Vertrauen offenbar mit der Geburt aufhört, nämlich beim Stillen! Da ist es dann auch so, dass die Freundin und die Schwester auch keine Milch hatten und deren Kinder sind ja auch mit Flasche groß geworden und siehste, bei mir klappt’s ja auch nicht. Das wollte für mich überhaupt nicht zusammenpassen.

Diese Konfrontation mit den eigenen (Un-)Selbstverständlichkeiten macht es für mich täglich wieder spannend. Genauso wie die Geburten täglich wieder spannend sind, auch wenn ich anfangs mal kurz dachte: »Jetzt kann mir nichts mehr passieren«. Etwas Adrenalin bleibt wohl hoffentlich immer!

Stefanie Möller